Filmtanz, Tanzfilm und getanzter Film

Tout, absolument tout, peut danser au cinéma. Les images comme les personnes, les objets comme la caméra. La danse est souvent là où on ne la cherche pas. Plus on montre les danseurs et moins le film est dansant. [1]

1 Licht-, Formen- und Objekttanz

Aufnahmen von Tanz gibt es bereits kurz nach der Erfindung des Films, schon das erste kommerzielle Filmprogramm in den USA (1896) enthielt Filme mit Tanzdarbietungen.[2] In Hollywood entwickelten sich bald narrative Filme mit revueartigen Tanzeinlagen. Diese hat Man Ray allerdings weniger im Blick, wenn er schreibt: La danse est un sujet idéal pour le cinéma.[3] Vielmehr geht es ihm um eine andere Entwicklung: Der Tanz wurde, nachdem ihn Loïe Fuller oder Isadora Duncan um 1900 vom klassischen Handlungsballett befreit hatten, zu einem Modell für andere Künste. Hatte Fuller den Tanz durch Verdecken ihres Körpers in Stoff- und Lichtinszenierungen zu einer nahezu abstrakten Kunstform werden lassen, so war es derselbe abstrakte Charakter, der zur gleichen Zeit auch die Musik zum Modell für andere Künste, etwa die Malerei oder den Film, werden ließ. Tanz und Musik werden als Modelle bei der Entwicklung filmischer Konzepte herangezogen, wobei die Bindeglieder zwischen Tanz und Musik (und letztendlich auch dem Film) die Begriffe ›Bewegung‹ und ›Rhythmus‹ sind.[4]

Die drei zeitbasierten Kunstformen Film, Musik und Tanz gehen dabei eine Art Zirkelschluss ein, bei dem sie oft zur gegenseitigen medialen Profilierung herangezogen werden. Walter Ruttmanns Lichtspiel opus 1 (DE 1921), das abstraktes Filmbild und Musik analog setzt, wird etwa von einem Zeitgenossen als absoluter Tanz[5] bezeichnet, und die Tänzerin Valeska Gert wiederum zitiert Ruttmanns Opus II (DE 1923) als Modell für ihre Definition von Tanz. Oskar Fischingers Studien (DE 1929–1934) setzen populäre Tanzmusik in einen filmischen Ablauf um, der zumeist als Formentanz oder Choreografie bezeichnet wird, insofern sich die Formen – abgestimmt auf die Musik – gleich Tänzern in Formationen über die Leinwand bewegen.[6]

Ist der deutsche Formentanz häufig zeichnerisch oder malerisch am Tricktisch entstanden, sind es im französischen Experimentalfilm hingegen eher Objekte und Lichter, die in tänzerische Bewegung gelangen. Man Ray versetzt in seinen Filmen wiederholt Lichter, Formen und Objekte in eine Drehbewegung, die tänzerische Bewegung par excellence[7], um sein kinematografisches Konzept von einem nicht-narrativen Kino, dem cinépoème[8], umzusetzen. Verwiesen sei hier nur auf den Kragentanz in Emak Bakia (F 1926, R: Man Ray). Bei dem Film Ballet mécanique (F 1924) von Fernand Léger und Dudley Murphy liegt die Verbindung zum Tanz bereits im Titel, wobei es sich hier vorwiegend um gefilmte Objekte handelt, die postproduktiv durch Schnitt und Montage in rhythmische Bewegung versetzt werden. Ist die Verbindung zur Musik hierbei eher implizit, über eine Orchestrierung von rhythmischen und plastischen Elementen[9], zu finden, so wird im cinéma pur der Bezug zu Musik und Tanz auch theoretisch ausgearbeitet. Beim Versuch der Definition des Films als Kunst schreibt bereits der Kunsthistoriker Élie Faure 1922 über sein Konzept der cinéplastique: … la cinéplastique tend et tendra chaque jour davantage de se rapprocher de la musique. De la danse aussi.[10] Germaine Dulac definiert den Film in ihren Schriften zur Konzeption eines cinéma pur dann wiederholt als musique de l’œil[11], die aber auch tänzerische Qualitäten besitzt. Auch wenn sie in Thèmes et Variations (F 1928) die Bewegungen von Licht, Objekten und Pflanzen durch Parallelmontage mit denjenigen einer Tänzerin kombiniert, so hängt der filmische Tanz für sie keineswegs mit der realen Präsenz einer tanzenden Person zusammen, sondern vor allem mit rhythmischer Bewegung: J’évoque une danseuse! Une femme? Non. Une ligne bondissante aux rythmes harmonieux.[12]

Die Experimente zur Verbindung von Musik und in filmischen Tanz versetztem Licht, Objekten und Formen werden nach den 1920er Jahren zunächst nur gelegentlich weitergeführt, etwa in Filmen wie Tarantella (US 1940) von Mary Ellen Bute oder Free Radicals (US 1958) von Len Lye.

So betitelt etwa der zeitgenössische Kritiker und Tanztheoretiker Fritz Böhme einen Artikel über Fischingers Arbeit mit Der Tanz der Linien (Fritz Böhme, »Der Tanz der Linien«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 16. August 1930), William Moritz greift in seinem Artikel über Fischinger wiederholt den Begriff der Choreografie auf (William Moritz, »The Films of Oskar Fischinger«, in: Film Culture 58–60, 1974, S. 37–188, passim).  
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