Nicht versöhnt

Die Beziehung zwischen der Bild- und Tonspur im Film hat eine lange Geschichte.[1] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die ersten Stummfilme von Live-Klaviermusik begleitet, nicht zuletzt, um den Lärm des Kinematografen zu übertönen. Mit der Entwicklung des Lichttonfilms in den späten 1920er-Jahren etablierte sich die naturalistische Kinowirklichkeit, die den kommerziellen Film bis heute auszeichnet und die dazu beitrug, dass der Film sprechen lernte. Hinter dem scheinbar natürlichen Zusammenspiel von Bild und Ton, wie wir es aus dem Hollywood-Kino kennen, steckt eine komplexe, hochartifizielle arbeitsteilige Produktionsmaschinerie, in der sowohl die Sound- als auch die Bildebene aufwendig konstruiert werden. Die Bildspur wurde dabei meist mit atmosphärischer mood music unterlegt, die ihren Ursprung nicht in der Filmhandlung hat. Dieser besondere Illusionismus erscheint uns heute natürlich. Doch das war nicht immer so. Gerade die berühmtesten Vertreter der historischen Filmavantgarde beschäftigten sich intensiv mit dessen Konstruktion: In ihrem Manifest zum Tonfilm von 1928 fordern Sergej Eisenstein, Wsewolod Pudowkin und Grigorij W. Alexandrow die entschiedene Nicht-Übereinstimmung des Tons mit den Bildern und beschreiben ihr Tonfilmkonzept als orchestralen Kontrapunkt visueller und akustischer Bilder. Das Aufeinanderprallen von Bild und Ton nutzte später auch Peter Kubelka als Stilmittel in Unsere Afrikareise (1966), um das brutale Eindringen der Safarigesellschaft in die afrikanische Stammeskultur zu kommentieren. Die Bewegung des Expanded Cinema machte die Analyse des kulturtechnischen Dispositivs Kino und sein Ton-und-Bild-Zusammenspiel zu einem expliziten Thema. Das Spektrum reicht dabei von Valie Exports Konzept Tonfilm (1969), bei dem das Kino in den Körper ausgelagert und erweitert wird, bis zu Imogen Stidworthys raumgreifender multimedialer Installation The Whisper Heard (2003), die den Zuhörer und Zuseher auf sinnlich umfassende Art einbezieht. Mit ihren Collagen aus voneinander getrennten Bild- und Tonspuren erzielt sie bewusst destabilisierende Wirkungen. Den Ton in ein gleichberechtigtes und eigenständiges Verhältnis zu den Bildern zu setzen ist auch ein Anliegen des Experimentalfilmemachers und Künstlers Michael Snow. In Rameau’s Nephew by Diderot (Thanx to Dennis Young) by Wilma Schoen (1972–74), einem trickreichen Stillleben über die schwierige Koexistenz von Worten, Gegenständen und ihrer Wiedergabe (Pierre Théberge), variiert Snow in 25 Kapiteln die unterschiedlichen Beziehungsmöglichkeiten zwischen Bild und Ton im Kino. Snow selbst bezeichnet seinen Film als real talking picture, der erfahrbar macht, dass die Stimmen, die man hört, Repräsentationen sind und nicht aus dem Mund, sondern aus dem Lautsprecher kommen. Mitunter treten auch der Ton- und Beleuchtungsmann ins Bild und belagern die jeweils sprechenden Schauspieler. Tatsächlich kann die Tonspur die Bildebene in eine nahezu beliebige Richtung lenken. Sie kann affirmieren, destabilisieren oder irritieren. Sehr ironisch hat das John Baldessari in Ed Henderson Suggests Sound Tracks for photographs (1974) thematisiert. Die unterschiedlichen Soundtracks, die der Student Ed Henderson Baldessari darin vorschlägt, machen die latente Willkür der audiovisuellen Bedeutung gut deutlich. Um ähnliche Fragestellungen geht es in den Arbeiten von Jack Goldstein. Bei ihm wird das kommerzielle Hollywood-Kino zum Reservoir formaler Bausteine, die er emblemartig isoliert. Geräuscheffekte, Bilder und Requisiten der Entertainmentindustrie präsentiert er auf minimalistische Weise. Aus dem brüllenden Metro-Goldwyn-Mayer-Signet-Löwen wird beispielsweise ein dreiminütiger Loop, der wie eine hängengebliebene Platte die gnadenlose Aufgezogenheit der Hollywood-Maschinerie deutlich macht sowie den libidinösen Reiz dieser kommerziellen Bildkultur zur Geltung bringt.

Peter Kubelka, Unsere Afrikareise, 1966

VALIE EXPORT, Tonfilm, 1969

Michael Snow, Rameau’s Nephew by Diderot (thanx to Dennis Young) by Wilma Schoen, 1972–74

John Baldessari, Ed Henderson Suggests Soundtracks for Photographs, 1974

Ryszard Waśko, From A to B and back to A, 1974

Jack Goldstein, A Suite of Nine 7-inch Records, 1976

Louise Lawler, A Movie Will Be Shown Without the Picture, 1979

Josef Dabernig, Wisla, 1996

Douglas Gordon, Feature Film, 1999

Imogen Stidworthy, The Whisper Heard, 2003

Constanze Ruhm & Ekkehard Ehlers, blindstorey / Fitzwilliam Version, 2003–2009

Jutta Koether, Unganzheitssymbole: K (Hommage an Kenneth Anger), 2004

Manon de Boer, Presto, Perfect Sound, 2006

Martin Arnold, Coverversion, 2007

Siehe dazu den Text von Gabriele Jutz im Ausstellungskatalog.