Site.Sound.Industry

Der Ort macht die Musik. Er ist mitverantwortlich für charakteristische Klangbilder und Genre-Ausprägungen. So war bei wichtigen Entstehungsorten der Popkultur wie Memphis, Chicago, Detroit, London, Manchester oder dem Ruhrgebiet stets ein Konnex gegeben zwischen der jeweiligen urbanen Umgebung und der Art von Musik (sei es Blues, Rock ’n’ Roll, Punk, House, Techno etc.), die dort – und bisweilen nur dort – entstehen konnte. Das städtische Umfeld, seine soziale Verfasstheit und Architektur, flossen gleichermaßen in die örtliche Klang- und Bildproduktion ein wie umgekehrt im Sound bestimmter Metropolen meist auch eine gewisse Unverwechselbarkeit mitschwang. Welcher Zusammenhang genau zwischen lokalen urbanen Umgebungen und dort ihren Ausgang nehmenden Musikstilen besteht, ist zentraler Ansatzpunkt des Kapitels Site.Sound.Industry. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei Industriestädten zu, denen wiederholt sound-bestimmende Merkmale zugeschrieben wurden. Fließbandproduktion, Ausbeutung und Entfremdung der Arbeitskraft, Arbeitslosigkeit, Abwanderung der Industrie, Flexibilisierung der ehemals Vollbeschäftigten – all diese Aspekte lassen sich auf die eine oder andere Weise an der Musik, die aus solchen Städten kommt, ablesen. Insbesondere gilt dies für eine Stilrichtung, die sich ab Mitte der 1970er-Jahre entwickelte und in ihren nihilistischen Klangfantasien einen sehr direkten Bezug zu soziourbanen Umgebungen, die dem Niedergang geweiht waren, aufwies. Ausgehend von nordenglischen Städten wie Sheffield, Manchester, aber auch verfallenden Stadtteilen Londons, der Mauerstadt Berlin oder Industriezonen wie dem Ruhrgebiet, verband Industrial, wie diese Richtung bezeichnet wurde, den Hang zur maschinellen, überwiegend elektronischen Klangproduktion mit den Untergangsszenarien einer dysfunktional gewordenen Industriekultur. Nicht umsonst lautete einer der ersten Slogans der Bewegung Industrial Music for Industrial People. Site.Sound.Industry geht diesem Konnex in mehrerlei Hinsicht nach: Zunächst werden anhand ausgewählter Bild-, Ton- und Textmodule, zusammen mit künstlerischen Beiträgen, Schlüsselstationen dieser Stilentwicklung aufbereitet. Der Bogen spannt sich von dem düsteren Stadtteil Hackney im Nordosten Londons über die kaltmoderne Fabrikstadt Manchester bis hin zu den Zentren der deutschen Stahl- bzw. Automobilindustrie. Inwiefern waren das Umfeld bzw. die Ikonografie der Schwer- und Fließbandindustrie ein entscheidender Einfluss für die Ausprägung von Industrial? Inwiefern waren avantgardistische Strömungen aus Kunst und Popkultur an dieser Entstehung beteiligt? In welchen visuellen Erscheinungsbildern trat der Sound of Industry zutage? Ein zweiter Aspekt gilt dem historischen Wandel von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft: Wenn sich Industrial ursprünglich auf das soziokulturelle Umfeld einzelner Industriestädte bezog, wie spiegeln dann Produktion, Distribution (die spezifische Produktform dieser Musik) und Rezeption deren langsamen Niedergang wider? Lässt sich die großflächige ökonomische Umstrukturierung, wie sie in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich stattfand, auch an postindustriellen Musikstilen ablesen? Diesbezüglich beleuchtet Site.Sound.Industry die anhaltende Faszination diverser Industrial-Ästhetiken, die heute großteils mittels Computer und an beliebigen Orten der Welt produziert werden. Schließlich wirft dies auch ein Schlaglicht auf musikalische Produktivität und sich wandelnde Klangbilder in Zeiten zunehmender Entindustrialisierung und Immaterialisierung. Auf welche Art von Industrie bzw. deren Verortung nehmen Spielarten einer Musik Bezug, deren Vorläufer einst auf die Entfremdung in der industriellen Massengesellschaft fokussiert waren? Welche Zusammenhänge bestehen heute zwischen den örtlichen Einbettungen und der lebensweltlichen Orientierung bestimmter Musikformen? Site.Sound.Industry spannt den Bogen dieser Auseinandersetzung bis herauf zu antiindustriellen Artikulations- und Agitationsformen in der jüngeren Techno-Kultur.

Ausstellungsbeitrag kuratiert von Petra Erdmann und Christian Höller

Throbbing Gristle, 1976-80

Derek Jarman, T.G.: Psychic Rally in Heaven, 1981

Andrew Gowans, Throbbing Gristle's Hackney, 2006

Einstürzende Neubauten, Stahlmusik, 1981

Peter Saville, 1978-82

Kevin Cummins, Photoworks, 1977–1989

Die Krupps, Stahlwerksynfonie, 1981

Test Department, Ecstacy Under Duress, 1984

Wolfgang Müller, Wolfsburger Modell zur Herstellung einer unsichtbaren Vinylscheibe, Linzer Version, 1980/2009

Jeremy Deller, Theory & Practice, 1997/98

Kerstin von Gabain, We Will Never Miss, 2009