Tanz als Audiovision

9 Choreografie

In den 1990er Jahren wird Choreografie als Bewegungstext neu bestimmt, wobei der Körper als Feld politischer Diskurse im Dialog mit der poststrukturalistischen Philosophie Roland Barthes’, Michel Foucaults oder Gilles Deleuzes in den Vordergrund rückt.[54] Die Choreografen dekonstruieren das Phantasma eines vorgeblich natürlichen Körpers und legen historische, soziale und begriffliche Rahmenbedingungen einer Sprache des Körpers über choreografisch transparent gemachte Ebenenverschiebungen zwischen physischen Vorgängen, Körperbildern und ihren herkömmlichen Be-Deutungen offen.[55] Sound stellt eine Möglichkeit dar, die Zuschauerwahrnehmung herauszufordern, die absichtsvoll gelassenen Lücken im Repräsentationsgefüge der Bühne zu besetzen und die Kontextualisierung und De-Kontextualisierung von Bewegung aktiv herzustellen: Das Auslassen von bestimmten tanzspezifischen Parametern« ermöglicht »eine andere Form von Erfahrung.[56]

In Jérôme Bels The Show Must Go On (2000) wird das Vertanzen von 19 Pop-Hits wie Let’s dance (Jim Lee, 1962), Into My Arms (Nick Cave, 1997) oder Killing me softly (Charles Fox und Norman Gimbel, 1972) wörtlich genommen, sodass die simplen Bewegungshandlungen des Tanzens, Umarmens oder Tod-zu-Boden-Sinkens und die Lyrics anagrammatisch zusammenfallen.[57] Die dramatische Konvention der Darstellung, in der ein Körper eine Rolle spielt, wird unterlaufen, indem die Körper bei Bel immer schon Text sind und nicht Text artikulieren.[58] Die choreografische Dimension von Musik als Bewegungstext, ausgehend vom funktional-expressiven Akt des Musizierens als Präzedenzfall der komplexen Wechselwirkung zwischen Performance und Publikum, untersuchen Jonathan Burrows und Xavier Le Roy. Burrows realisiert seit 2002 Duette mit dem Komponisten Matteo Fargion, die Verhältnisse zwischen Musik und Tanz als virtuose minimalistische Bewegungskonzerte sichtbar machen. In Both Sitting Duet (2002) übersetzen sie, wie Musiker auf Stühlen vor einer Partitur mit Blick zum Publikum sitzend, Morton Feldmans For John Cage (1982) Note für Note in Bewegung, wobei die rhythmische Struktur der Musik als hochpräziser zweistimmiger Gestensatz reflektiert wird. Xavier Le Roy arbeitet in den dreiteiligen Mouvements für Lachenmann (2005) an der Freistellung des gestischen Vokabulars der konzertanten Interpretation, indem Musiker ihre eigene Praxis dekonstruieren. So wird Mouvement von Helmut Lachenmann mit vollem Orchester ohne Instrumente aufgeführt. Le Sacre du Printemps (2007) überträgt die Interaktion zwischen Dirigent und Musikern auf den Solisten Le Roy und seine in Orchesterformation sitzenden Zuschauer und hinterfragt das Verhältnis von Körperlichkeit und Klangerlebnis.

Die Arbeit mit scores, Partituren zur Kommunikation und Gestaltung von Stücken, rückt als Auseinandersetzung mit dem Raum zwischen Zeichen und Körper wieder ins Zentrum des Interesses. Im Fall von Dance (Praticable) (2006) stellte Frédéric Gies den score seiner Choreografie, eine Anleitung zur Bewegungserzeugung nach dem Body Mind Centering, ins Internet. In Rire (2007) interpretiert Antonia Baehr Lachpartituren, die für sie entworfen wurden.[59] Die Interpretation komponierten Lachens spielt mit den Codes der Darstellbarkeit von Emotion. 2009 recherchiert Baehr in Kollaboration mit Musikerinnen und Komponistinnen über die Partitur als Arbeitstool in Choreografie und Musik.

Die kritische Reflexivität dem Medium Körper gegenüber, die solche choreografischen Ansätze auszeichnet, resultiert aus strategisch erzeugten Momenten der Differenz. Sie unterbrechen und blockieren Konventionen von Lesbarkeit und Sinnproduktion. Diese werden nicht nur als solche erkennbar, sondern es bildet sich auch eine neue Form von Choreografie als Denken qua Körper[60] heraus: durch die Reibung des Körpers an seiner unhintergehbaren Einbettung in kulturelle Diskurse und Texturen und seine gleichzeitige Widerständigkeit. Sound ist eine solche Textur, welche die Bildhaftigkeit der theatralen Repräsentationen konterkariert, dekonstruiert und herausfordert.

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