Expanded Cinema

3 Ausbuchstabierung einer Form

Seit Beginn der 1960er Jahre sollte die Zahl der dem Expanded Cinema zugeordneten Positionen stark wachsen. Immer mehr Künstler und Filmemacher beschäftigten sich mit der Frage nach Möglichkeiten, wie die herkömmlichen Raum- und Produktionsgrundlagen des Films aufzubrechen seien. 1965 schufen Künstler wie Claes Oldenburg (Moveyhouse), Carolee Schneemann (Ghost Rev) oder die ONCE Group (Unmarked Interchange) zahlreiche Werke, die gerade auch unter Einbeziehung von Performances das gewohnte Raumverhalten der Zuschauer im Kino unterminierten.[13] Durch Andy Warhols Exploding Plastic Inevitable wurden diese Strategien ein Jahr später geradezu aggressiv vorangetrieben. Gemeinsam mit der Band Velvet Underground inszenierte Warhol mit EPI ein mediales Feuerwerk, in dem das audiovisuelle Sensorium der Zuschauer unter konstanten Beschuss geriet. Während bis zu fünf Projektoren gleichzeitig Filme abspielten, wurden parallel Dias gezeigt, eine Diskokugel strahlte, Stroboskope blitzten, Velvet Underground spielte ein Set und verschiedene Performer wie Gerard Malanga und Ingrid Superstar traten auf. Damit wurden nicht nur die perzeptiven Kapazitäten des Publikums ausgelotet, sondern darüber hinaus auch die Kapazitäten eines multimedialen Settings.[14] Andy Warhol selbst agierte dabei immer wieder wie ein Regisseur an den Reglern, der, sobald er den Eindruck hatte, dass die Zuschauer sich an Bilder oder Sequenzen gewöhnten und ein gewisser Wahrnehmungsfluss entstand, intervenierte und für neue Irritationen durch Veränderung der Bild- bzw. Soundimpulse sorgte.

Gegenüber einer solchen ausgreifenden multi-sensoralen Praxis müssen andere Spielarten des Expanded Cinema wie Tony Conrads Film The Flicker geradezu als schlicht bezeichnet werden. Conrad baute nicht auf eine Zufügung performativer Akte, um den Kinobegriff zu erweitern, sondern besann sich auf die Matrix, den elementaren Bestandteil des Films: auf das Einzelbild. Die flackernden schwarz-weißen Sequenzen von The Flicker ließen die neuronalen Reaktionen der Netzhaut als Nachbilder sichtbar werden und bewirkten bei einigen Betrachtern die intensive Wahrnehmung von Farben und Räumen.[15] Durch das Zusammenspiel dieser visuellen Ebene und der den Film begleitenden Tonebene kam es zu einer bewussten Wahrnehmung des Sehens und Hörens aufgrund besonders stark kontrastierender Stimuli. Hier wurde die Filmidee also nicht nur in den architektonischen Raum, sondern vielmehr auch ins Innere des Betrachters erweitert; der Körper des Betrachters zeigte sich als wesentlicher Bestandteil des filmischen Dispositivs. Paul Sharits war ebenfalls besonders an diesen Potenzialen des Films interessiert. Er rückte dabei jedoch von flickernden, rein schwarz-weißen Bildern wie bei Conrad ab. In seinen Filmsequenzen zeigte er stattdessen teilweise verschiedene Farbabfolgen (Shutter Interface) oder baute eigens für seine Filminstallation konzipierte Zellen (Epileptic Seizure Comparison), in denen die Betrachter mit flickernden Filmaufnahmen von Epilepsieanfällen geradezu visuell beschossen wurden und zudem vor der Möglichkeit eigener Anfälle gewarnt werden mussten.[16]

Liz Rhodes entwickelte die Auseinandersetzung mit dem Potenzial des Flicker-Effektes schließlich in den 1970er Jahren mittels filmischer Installationen ebenso außerhalb des Kinos und vor dem Hintergrund der Idee visueller Musik, beispielsweise in ihrer Komposition Light Music für zwei Projektoren, weiter. Die Beschäftigung mit dem Expanded Cinema führte dabei nicht nur immer öfter in die Architektur des Museums oder der Galerie – auch Fragen einer alternativen Kinoarchitektur kamen erneut auf, bei denen vor allem auch die Ton-Bild-Beziehung (aufgrund der sich immer weiter verbessernden technischen Möglichkeiten) eine zunehmend wichtige Rolle spielten. Stan Vanderbeek sollte in diesem Zusammenhang eine Reihe von Projektionen für sein 1965 geschaffenes Movie-Drome entwickeln und Hélio Oiticica konzipierte 1973 eine Reihe sogenannter Quasi-Cinemas wie das mit dem Filmemacher Neville D’Almeida entwickelte Projekt CC5 Hendrix-War.[17] In Hängematten liegend wurde das Publikum dabei in eine räumliche Bild-Klang-Atmosphäre gehüllt, bei der die bewusste körperliche Erfahrung im Zentrum stand.

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