Audiovisuelle Software-Kunst

1 Vorläufer und Pioniere der audiovisuellen Softwarekunst

Heute sind es Tausende, wenn nicht Zehntausende, die auf dem Gebiet der audiovisuellen Softwarekunst aktiv tätig sind, ursprünglich aber geht die Disziplin auf einige wenige Künstler zurück, die in der Lage gewesen waren, sich Mitte der 1960er Jahre Zutritt zu Computerlabors zu verschaffen. John Whitney, der kalifornische Filmemacher und Pionier des Animationsfilms, und seine Arbeiten eignen sich einigermaßen gut als Anfangspunkt dieser Geschichte. Während die meisten Zeitgenossen von Whitney, die sich schon mit Computerkunst beschäftigten (wie z. B. Georg Nees, Frieder Nake, Manfred Mohr und Chuck Csuri), ganz auf softwaregenerierte Plotterausdrucke konzentriert waren, interessierte sich Whitney ausschließlich für die quasi musikalischen Eigenschaften von zeitabhängigen Bildabläufen. Die Computer der 1960er Jahre waren zu langsam, um komplexe Bilder in Echtzeit generieren zu können; Whitney generierte daher animierte Einzelbilder und übertrug sie auf Film. In Animationen wie Permutations (1966–1968 in Zusammenarbeit mit dem bei IBM tätigen Forscher Jack Citron) und Arabesque (1975 unter Mithilfe von Larry Cuba entstanden) experimentierte Whitney mit Möglichkeiten, über die kinetischen Rhythmen sich bewegender Punkte Wahrnehmungen zu erzeugen, die eine starke Analogie zu den Modulationen einer musikalischen Spannung aufwiesen. Die Begleitmusik von Whitneys Filmen aus dieser Zeit war gewöhnlich nicht elektronisch erzeugt[1]; erst als Anfang der 1980er Jahre die ersten Personal Computer und die ersten Echtzeit-Grafikkarten auf den Markt kamen, verlagerte sich sein Interesse in Richtung Entwicklung eines Softwareinstruments, das ihn in die Lage versetzen sollte, Bild und Ton zugleich zu komponieren, wie er es dann in seinen Animationen Spirals (1987) und MoonDrum (1989) demonstrierte.

Obwohl sich Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre schon der rapide technische Fortschritt sowohl in der Grafikfähigkeit der Computer wie auf dem Gebiet der Computermusik abzeichnete, war klar, dass man noch mehrere Jahre warten musste, bis es möglich sein würde, beide Medien zugleich in Echtzeit auf dem Computer zu generieren. Deshalb fanden viele bahnbrechende Experimente, in denen die konzeptuelle Grundlage für ausschließlich computerbasierte Echtzeit-Audiovisuals geschaffen wurde, in der rechnerunabhängigen Umgebung des Filmstudios statt. Gute Beispiele sind die Arbeiten, die von der amerikanischen Computerkünstlerin Lillian Schwartz (geboren 1928) in den Bell Laboratories geschaffen wurden. In Zusammenarbeit mit bedeutenden Computermusikern entstanden abstrakte Filmanimationen wie MATHOMS (1970, Musik von F. Richard Moore), MUTATIONS (1972, Musik von Jean-Claude Risset) und MIS-TAKES (1972, Musik von Max V. Mathews). In einem nächsten Schritt kombinierten einige Künstler eine im Computer erzeugte mediale Synthese mit einer traditionellen Live-Performance in einem anderen Medium. So beschrieb der deutsche Computergrafik-Pionier Herbert W. Franke 1975 die Produktion von zwei zehnminütigen Filmen mit grafischer Musik (Rotations und Projections, 1974), in denen Jazzmusiker über gleichzeitig projizierte Muster abstrakt animierter Linien improvisierten.[2] ON-LINE, eine Performance von Schwartz aus dem Jahr 1976, verbindet den Live-Auftritt einer Tänzerin und mehrerer Musiker in Echtzeit mit speziellen grafischen Effekten, die Schwartz über eine QWERTY-Tastatur auf ein computergesteuertes Videosystem übertrug.[3]

Das erste Computersystem, das in der Lage war, sowohl Animation wie Ton in Echtzeit zu synthetisieren, war möglicherweise VAMPIRE (Video and Music Program for Interactive Real-time Exploration/Experimentation), das von Laurie Spiegel zwischen 1974 und 1976 auf einem DDP-224 Computer in den Bell Laboratories in New Jersey entwickelt wurde. VAMPIRE bot ein Grafiktablett, ein Fußpedal und viele Drucktasten und stufenlos verstellbare Drehknöpfe, mit denen man eine Unzahl von Bild- bzw. Tonparametern aufrufen und steuern konnte.[4] VAMPIRE basierte auf Max Mathews’ GROOVE (Generating Real-time Operations on Voltage-controlled Equipment), einem System zur Erforschung der Computermusik, und stellte, wie Spiegel sagte, ein Instrument dar, mit dessen Hilfe es möglich wurde, abstrakte Muster zu komponieren, die sich im Verlauf eines Stücks durch die Aufnahme von menschlichen Beiträgen ändern konnten, die sich über den Computer mit ganz verschiedenen Eingabemöglichkeiten vornehmen ließen. Interpretations- und Einsatzparameter dieser Vorrichtungen waren programmierbar, und alle eingegebenen Daten konnten gespeichert, abgespielt, neu interpretiert und in anderem Zusammenhang wiederverwendet werden. Die vorgegebenen Zeitfunktionen konnte durch alle Transformationen, die man darüber hinaus programmieren wollte, zusätzlich abgeändert und dann zur Steuerung jedes beliebigen Bild- oder Tonparameters verwendet werden, nachdem man sie über Magnetband oder Disk auf den mit einer Audioschnittstelle versehenen Computer zu GROOVE überspielt hatte. Leider war es durch die Aufstellung der Computer in verschiedenen Räumen des Laboratoriums physisch unmöglich, einen einzelnen Satz von aufgenommenen (bzw. am Computer erzeugten) Zeitfunktionen für die gleichzeitige Steuerung sowohl von Bild wie Ton zu verwenden, obwohl dies prinzipiell möglich gewesen wäre.[5]

Bedeutsame Entwicklungen auf dem Gebiet der auf Software basierenden oder von dieser generierten audiovisuellen Kunst zwischen dem Ende der 1960er und den frühen 1980er Jahren sind unter anderem die Computeranimationen von Stan VanDerBeek, Ken Knowlton, Tom DeFanti und Larry Cuba sowie die computergesteuerten Laserprojektionen von Paul Earls und Ron Pellegrino und die interaktiven Installationen von Myron Krueger und Ed Tannenbaum. Die zunehmende Verfügbarkeit des PCs führte zu einer signifikanten Ausweitung des Spielraums für die audiovisuellen Künste und schuf Platz für neue Formen, wie z. B. die digitalen Videoperformance-Arbeiten von Don Ritter und Tom DeWitt und die interaktiven Desktop-Software-Arbeiten von Adriano Abbado und Fred Collopy.

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