Filmmusik

2 Vom Cue Sheet zum Kinoorchester

War die Wahl der Musikstücke zuvor den Musikern überlassen, erschien 1910 zu einem Frankenstein-Film das erste sogenannte Cue Sheet der Firma Edison. Dem Klavierspieler wurde damit eine Einteilung in Szenen mit konkreten Vorschlägen zu ihrer musikalischen Untermalung (Unterhaltungsmusik, Webers Freischütz, Wagners Lohengrin) in die Hand gegeben. Eine Pionierleistung in der Filmmusikgeschichte stellt die Sam Fox Moving Picture Music (1913) dar, die von John Stepan Zamecnik komponierte Musikbeispiele für typische Erzählmomente enthielt, die für jeden Film neu zusammengestellt werden konnten. Ebenfalls legendär ist die zwölf Bände umfassende Kinothek (1919) von Giuseppe Becce, welche überwiegend neu komponierte Musikbeispiele für bestimmte Situationen bereithielt. Am Seitenrand waren Verweise auf anderen Szenenmusiken notiert. Ähnlich konzipiert war die Sammlung von Opern- und Sinfoniefragmenten, Tänzen, romantischen Charakterstücken etc. von Ernö Rapée (1924).[2] Obwohl solche musikalischen Patchworks für Klavierbegleitung die Regel waren, wurde für einige wenige Filme auch eigens komponiert, so 1908 von Camille Saint-Saëns (L’assassinat du duc de Guise, FR, R: André Calmettes und Charles Le Bargy)[3], 1909 von Michail Ippolitow-Iwanow (Das Lied über den Kaufmann Kalishnikow, RU)[4], 1913 von Joseph Weiß (Der Student von Prag, DE, R: Stellan Rye und Paul Wegener). In den 1920er Jahren wuchs das Interesse der Komponisten an Filmmusik. Deshalb entstanden mehrere originäre und erstklassige Kompositionen zu Stummfilmen, etwa für La Roue von Abel Gance (FR 1923, M: Arthur Honegger), für Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein (RU 1925, M: Edmund Meisel) oder für Das neue Babylon von Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg (RU 1929, M: Dimitri Schostakowitsch).

Auch für abstrakte oder wenig narrative Filme entstanden außergewöhnliche Arrangements, so von Hanns Eisler oder von Paul Hindemith.

Eine herausragende Rolle kommt Erik Saties Filmmusik für Entr’acte zu (FR 1924, R: René Clair). Dies gilt weniger für die von ihm verwendete Baukastenmethode – der Aneinanderreihung sich wiederholender Abschnitte bei einem Verzicht auf melodische Entfaltung – als vielmehr für seine kleingliedrigen repetitiven Muster.

Mit einer derartig aufgebauten Musik, die leicht mit dem Bild synchronisiert werden konnte, nahm Satie eine Herausforderung des Tonfilms vorweg. Da Filmmusik nun nicht mehr live angepasst werden konnte, musste sie Materialverluste, die durch Filmrisse während des Abspielens verursacht wurden, ohne Sinneinbußen ertragen.

In den 1910er Jahren eroberte der Film mehr und mehr das bürgerlich gehobene Publikum. Damit wuchsen nicht nur die Ansprüche an die Aufführungsorte, sondern auch an die Präsentation der Musik. Sie nahm in den ab der Mitte der 1910er Jahre in den USA und in Europa nach dem Ersten Weltkrieg aufkommenden Filmpalästen eine zentrale Stellung ein. So besaß das 1914 eingeweihte elegante Strand Theater in New York bereits ein eigenes Orchester, das 30 Instrumentalisten, einen Organisten und ein Vokalquartett umfasst haben soll.[5] Die aufwändige Produktion von David Wark Griffith The Birth of a Nation (US 1915) sah für die Begleitung eine Kompilation populärer und klassischer Musik vor, die Griffith zusammen mit Joseph Breil[6] ausgewählt hatte. Selbstverständlich sollte der Walkürenritt für den Ku-Klux-Klan mit bombastisch orchestralem Sound verbunden werden. Dieser Film steht auch beispielhaft für die illustrierenden Funktionen von Musik, die sich bereits zu dieser Zeit herauskristallisierten. Dazu gehörten an erster Stelle der Ausdruck von Gefühlen und Stimmungen Mood-Technik sowie die realistische Untermalung von Aktionen Underscoring, beispielsweise eines Sturms durch Agitato. Zusätzlich wurden Geschirrkisten, Hupen, Schlagzeug und die ab 1908 entwickelten Kino-Orgeln mit zahlreichen Geräuschregistern eingesetzt.[7] Zuweilen erhielt Musik auch bedeutungsgenerierende Aufgaben, wenn etwa bei einer noch harmlosen Mann-Frau-Szene quasi aus dem Off ein informierendes Oh, wie so trügerisch sind Frauenherzen erklang. Neben solchen auf die Filmwahrnehmung einwirkenden Funktionen versicherte die Musik dem im Dunklen sitzenden Zuschauer seinen Platz in einem Raum.[8]

Statt auf diese griff er bei der amerikanischen Premiere des expressionistischen Albtraums Das Cabinett des Dr. Caligari (DE 1919, R: Robert Wiene) allerdings auf Ausschnitte damals neuer Musik (Strauss, Debussy, Schönberg, Strawinsky, Prokofjev) zurück.  
Die Filmmusik ist als op. 128 in sein Werkverzeichnis eingegangen. Die unübliche Besetzung aus Klavier, Harmonium und Streicher verweist auf ihre Herkunft.  
Zuweilen auch als Joseph Briel geschrieben.  
Der Kinodirigent Schmidt-Gentner benutzte solche dramaturgisch motiviert Musik. Sie setzte eine gute Kenntnis des Films voraus.  
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