Musikalisches im abstrakten Film

5 Abstrakter Film im digitalen Zeitalter

John Whitney führte seine Forschungen zur Entwicklung eines computerisierten Instruments für die simultane audiovisuelle Komposition in den 1980er Jahren fort und setzte dieses erstmals für Spirals (US 1987) ein. In dieser Zeit begann mit dem Übergang zur Digitaltechnik ein wichtiger Umbruch im künstlerischen Film. Während die Verarbeitung von Film als Trägermaterial immer seltener und damit auch immer teurer wird, wird umgekehrt die digitale Videotechnik nicht nur billiger, sondern auch besser. Dennoch werden nach wie vor auch gegenstandslose Filme auf Zelluloid hergestellt. So ist das Spätwerk Stan Brakhages bis zu seinem Tode im Jahr 2003 überwiegend abstrakt (und stumm): Brakhage malte bzw. scratchte direkt auf dem Film. Der US-Amerikaner Bruce McClure manipuliert in seinen Film-Performances mehrere Projektoren und übersteigert so den Flicker-Effekt bis zu einer visuellen Gewalttätigkeit gegenüber dem Betrachter. Der Ton wird wie in Tönende Ornamente mit Bildern auf der Tonspur erzeugt und zudem mithilfe zahlreicher Audio-Effektgeräte manipuliert. Beide Arbeiten referieren direkt auf das filmische Material beziehungsweise auf die Mechanik des Projektors und wären daher in Video- oder Digitaltechnik so nicht realisierbar.

Gleiches gilt für die Arbeiten der Künstlergruppe Schmelzdahin (1979–1989: Jochen Lempert, Jochen Müller, Jürgen Reble), die den Materialfilm auf eine sehr eigenwillige Weise weiterentwickelte: Das Material wurde mechanisch, chemisch und biologisch manipuliert – so wurden etwa Filmrollen für längere Zeit ungeschützt im Garten vergraben. Auch bei der audiovisuelle Performance Alchemie von Jürgen Reble und Thomas Köner wird der Zelluloidstreifen Zersetzungsprozessen ausgesetzt, d. h. während der Projektion durch chemische Bäder geleitet. Audiovisualität wird in diesen Arbeiten zum einen im Rahmen der Live-Performance inszeniert, indem das Zischen und Dampfen der Chemikalien und die Betriebsgeräusche der Projektoren durch Mikrofone verstärkt und klanglich bearbeitet werden; zum anderen führte die Bearbeitung und Montage unterschiedlicher, durch Staub auf der Lichttonspur verursachter Geräusche zum Soundtrack Köners für Rebles Film Chicago aus dem Jahr 1996.

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass in Zukunft vor allem diejenigen gegenstandslosen Arbeiten auf Zelluloid hergestellt werden, die das Material aus konzeptionellen Gründen unbedingt benötigen, ansonsten aber wird auf Video und Digitaltechnik zurückgriffen. Die Präsentationen von Projektionssituationen im Ausstellungsraum (Projektor und Projektionsfläche befinden sich im selben Raum, der Projektor wird so expliziter, oft sogar dominanter Bestandteil der Arbeit) ist ein sehr neues Phänomen und es bleibt abzuwarten, ob es im Ausstellungskontext Bestand haben wird. Der abstrakte Film könnte aber so zu seinen Ursprüngen – der bildenden Kunst – zurückkehren.

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