Musikvideo

7 Erste Krisen- und Hochzeiten: Die Perfektion der Form

Die 1990er Jahre werden allgemein sowohl als erste Krisenzeit des Musikvideos wie auch als Hochphase gesehen: So kam es einerseits zu Beginn des Jahrzehnts zu einem ersten ökonomischen Einbruch in der Plattenindustrie und zu einer gewissen Übersättigung, die dazu führte, dass die zuvor gepflegte allgemeine Großzügigkeit in der Finanzierung von Musikclips stark konzentriert wurde. Dies führte jedoch andererseits dazu, dass einzelne Musikvideos ein Budget von 2,5 bis (wie z. B. 1995 das von Mark Romanek zu Michael Jacksons Scream) 7 Millionen Dollar erhalten konnten. Schließlich kam der Clip auch insofern in Hochform, als er zunehmend erfolgreich als Experimentalplattform für technische Innovationen genutzt wurde, die Eingang in das Kino fanden . Dazu zählen z. B. digitale Verfahren wie die 1999 in The Matrix narrativ eingebundene Technik des Frozen Moment, die von Michel Gondry in dem Clip zu Like a Rolling Stone (1995) eingesetzt und in den Videos zu Bally Sagoos Dil Cheez (1996) sowie zu Underwater Love von Smoke City (1997) aufgegriffen wurde.

Ab den 1990er Jahren nahmen Clip-Regisseure gleichzeitig verstärkt Bezug auf konventionalisierte Formate der Massenmedien und deren Stilmittel. So nimmt Roman Coppola in seinem Clip für Daft Punks Revolution 909 Anleihen bei Erzählformen von Dokumentarfilmen und Kochsendungen. Andere Filmemacher wie Spike Jonze orientierten sich an ästhetischen Merkmalen des Film-Trailers oder des TV-Serien-Vorspanns der 1970er Jahre mit ihren rasanten, heterogen anmutenden, doch von der Musik zusammengehaltenen Bilderfolgen, denen Jonze 1994 mit dem Clip zu Beastie Boys’ Sabotage eine liebevoll-ironische Hommage gewidmet hat.

Diese spannungsvolle Konstruktion von hoher Bilddichte bei gleichzeitiger Heterogenität der Bildinhalte fand in neuen Musikstilen wie z. B. dem Hip-Hop mit seinen Zitat- und Collageverfahren auf der Ebene der musikalischen und textuellen Faktur ein Äquivalent. Durch dieses Verfahren konnte in den Clips eine enorme Komplexität der Musik-Bild-Text-Verschränkung erreicht werden: Das 2002 von Dave Meyers gemeinsam mit der Interpretin Missy Elliott gedrehte Video zu ihrem Titel Work it! evoziert mithilfe der dort verwendeten Sample-Bausteine und Zitate beständig neue Bild-Assoziationen, die ein Eigenleben zu führen beginnen und schließlich wieder auf die sie ursprünglich provozierenden Ebenen von Musik und Liedtext zurückwirken. Durch dieses In- und Aufeinanderwirken der einzelnen, im Musikvideo übergriffenen und verschränkten Clip-Parameter werden in extremer Verknappung z. T. äußerst anspruchsvolle Diskurse um persönliche und überindividuelle Verlusterfahrungen (11. September 2001) und Rassenprobleme eröffnet. Damit war ein Höhepunkt an Dichte und Komplexität erreicht, auf den eine dem entgegengesetzte Aufspaltung und Ausdifferenzierung verschiedener Distributionsformate folgte.

1
2
3
4
5
6
7
8